Bereits unter der rot-grünen Landesregierung 2013-2017 lief ein Verfahren zur Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken im Personenverkehr. Dies lieferte vier Reaktivierungskandidaten, von denen allerdings bislang nur zwei umgesetzt wurden, nämlich Bad Bentheim – Neuenhaus (2019) und Einbeck – Salzderhelden (2018), insgesamt gerade einmal 30 km. Die beiden anderen Strecken (Hamburg-Harburg – Maschen – Buchholz und Salzgitter-Lebenstedt – Salzgitter-Lichtenberg) scheitern bislang an politischem Desinteresse (Salzgitter) oder Rangeleien zwischen Landesregierung und DB (Das Überwerfungsbauwerk Maschen kann nicht gebaut werden, solange der Fernverkehr südlich Hamburg nicht ertüchtigt ist).
Im Jahr 2022 hat das Bundesverkehrsministerium die sogenannte Standardisierte Bewertung angepasst, die darüber entscheidet, ob eine zu reaktivierende Bahnstrecke ein Nutzen-Kosten-Verhältnis größer als 1,0 erreicht und damit Aussicht auf eine Förderung nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) hat. Die Anpassungen sollen gerade auch ländliche Räume begünstigen, so dass in Niedersachsen nun mit mehr Reaktivierungskandidaten zu rechnen ist als im ersten Verfahren.
Im Schienenverkehr setzen wir auf eine Infrastrukturoffensive mit dem Ziel, Kapazitäten im Regionalverkehr zu erhöhen, Taktungen zu verbessern und die Zuverlässigkeit zu steigern. Die Chancen der Reaktivierung von stillgelegten Bahnstrecken und Haltepunkten werden wir stärker nutzen und ein neues Reaktivierungsprogramm starten. Ziel ist für uns eine Anbindung der Mittelzentren sowie touristisch relevanter Destinationen. Dazu werden wir zeitnah einen parlamentarischen Lenkungskreis unter Hinzuziehung des Nahverkehrsbündnisses Niedersachsen, weiterer Fachexpertinnen und Fachexperten sowie Verbänden einrichten. Die Kommunen werden wir bei der Erstellung von Machbarkeitsstudien zur Reaktivierung von Bahnstrecken finanziell unterstützen. Dort wo eine Streckenreaktivierung nicht realisierbar ist, prüfen wir die weitere Einführung und Finanzierung von Landesbuslinien.
SICHER IN ZEITEN DES WANDELS – Niedersachsen zukunftsfest und solidarisch gestalten. Koalitionsvertrag SPD/Grüne, 2022 – 2027, Seite 31
Aufgrund des bundesrechtlichen Rahmens und der Zielsetzung der Regierungsparteien in Niedersachsen (siehe Kasten) sind ab ca. 2025 deutlich mehr reaktivierte Kilometer zu erwarten als in der letzten Runde. Das brachte auch Verkehrsminister Lies zum Ausdruck: „Wir haben das Ziel, so viele Strecken wie möglich zu reaktivieren.“ LINK DAZU
Die Landesnahverkehrsgesellschaft (LNVG) führt mit detaillierten Vorschlägen das Reaktivierungsprogramm des Landes und koordiniert damit auch die Vorhaben der anderen beiden SPNV-Aufgabenträger (RH, RGB).
Begleitet wird das Verfahren von einem parlamentarischen Lenkungskreis, dessen Einrichtung der Landtag im März 2023 beschloss, und der im April 2023 zum ersten Mal zusammentrat. Er setzt sich zusammen aus Vertretern der vier Landtagsfraktionen, von Verkehrs-, Fahrgast- und Umweltverbänden sowie der niedersächsischen Gebietskörperschaften. Manche Fraktionen beteiligen sich intensiver als andere, manche Landkreise mehr als andere. Neben einem Vertreter des Nahverkehrsbündnisses sind auch einige seiner Mitgliedsverbände vertreten (BUND, VCD, PRO BAHN, SoVD und Einfach Einsteigen).
Nicht involviert ist der Lenkungskreis in die Weiterführung der SPNV-Reaktivierung auf der Strecke Neuenhaus – Coevorden und die Einrichtung des Personenverkehrs von Buchholz über die Güterumgehungsbahn nach Hamburg-Harburg. Diese wurden bereits vor dem neuen Reaktivierungsverfahren beschlossen und fallen daher nicht unter seine Zuständigkeit. Die Verbindung Wunstorf – Steinhude wurde ebenfalls aus dem Verfahren im Lenkungskreis herausgelöst, weil hier die S-Bahn-Planungen der Region Hannover maßgeblich sein sollen.
Bei der zweiten Sitzung wurde festgelegt, dass für fünf Strecken die bereits fortgeschrittene Planung der Reaktivierung des SPNV ohne weitere Bewertung fortgesetzt wird. Es handelt sich um:
- Soltau – Lüneburg,
- Stade – Bremervörde,
- Salzgitter-Lebenstedt – Salzgitter-Lichtenberg,
- Harvesse – Braunschweig und
- Helmstedt – Schöningen.
Die anderen Strecken werden in einem vierstufigen Prozess ausgewählt und bewertet. Der Ablauf wird auf den Seiten der Landesregierung näher beschrieben:
- Stufe 1: Vorauswahl der Strecken
- Stufe 2: Nutzwertanalyse
- Stufe 3: Klärung Finanzbearf Betriebskosten
- Stufe 4: GVFG-Antragsreife für die aussichtsreichsten Strecken
Der Lenkungskreis tagt in unregelmäßigen Abständen zu den einzelnen Stufen. Auch wenn er aufgrund der zentralen Rolle der LNVG im Wesentlichen auf eine beratende Funktion beschränkt bleibt, bringen sich die Mitglieder des Nahverkehrsbündnisses engagiert in den Prozess ein.
Denn die Vorauswahl der Strecken in Stufe 1 erfolgte leider nicht, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, „unter Hinzuziehung … von Fachexpertinnen und Fachexperten“ (s.o.). Die LNVG selbst entwickelte einen Kriterienkatalog und ließ in ihrem ersten Entwurf auch Kriterien unberücksichtigt, die das Nahverkehrsbündnis detailliert vorgeschlagen hatte. Gerade die im Koalitionsvertrag genannten Ziele „Anbindung der Mittelzentren sowie touristisch relevanter Destinationen“ waren unzureichend umgesetzt. Darüber hinaus war die Anwendung der Kriterien auf die einzelnen Strecken nicht immer nachvollziehbar. Nach einem Schreiben des Nahverkehrsbündnisses an den Minister und einem ausführlichen Workshop mit der LNVG wurden diese Mängel behoben, sodass Anfang 2024 schließlich 21 Strecken für die Nutzwertanalyse in Stufe 2 aufgenommen werden konnten. Die Nutzwertanalyse wird auch von Prof. Dr. Volker Stölting wissenschaftlich begleitet.
Das Verfahren ist dennoch unzureichend, denn eigentlich müsste zuerst ein Zielnetz entworfen werden, das eine flächendeckende Attraktivität besitzt. Die einzelnen Strecken müssten dann nach dem Nutzen beurteilt werden, den sie in diesem Zielnetz bieten. Da die Fördermittel des Bundes aber immer voraussetzen, dass nach der Standardisierten Bewertung das Nutzen-Kosten-Verhältnis der einzelnen Strecke im ansonsten bestehenden Netz ermittelt wird, ist dieser eigentlich richtige Ansatz nicht umsetzbar. Neben der künftigen Netzwirkung bleiben auch Kriterien wie die Erschließung des ländlichen Raums, Chancen der Regionalentwicklung, Klimaschutz oder Potenziale des Güterverkehrs unterbewertet.
Die LNVG hält es für denkbar, dass der SPNV schließlich auf sieben Strecken reaktiviert wird. Auch längere Strecken könnten dabei sein. Die Förderung der Ertüchtigungsmaßnahmen aus dem GVFG ist daran gebunden, dass auch die Finanzierung des Betriebs über 20 Jahre sichergestellt ist. Der Landeshaushalt scheint allerdings insoweit nicht zukunftsfähig aufgestellt zu sein. Eine Entscheidung darüber, welche Strecken tatsächlich reaktiviert werden, ist nicht vor Ende 2025 zu erwarten.